Das Graffiti
„Schau mal“, sagt die Ratte zur Gasmaske, „das könntest Du sein“, und deutet mit ihrer Pfote auf das Graffiti auf der heruntergekommenen, zerbröckelnden Hauswand.
Schon seit Tagen hat sie das graue Gemälde immer wieder an
verschiedenen Stellen neu entdeckt. „Stimmt!“ erwidert die Gasmaske, „das könnte tatsächlich ich sein. Weißt Du, wer das gemalt hat?“
„Es muss jemand von den Überlebenden gewesen sein, denn die Farbe ist frisch.“ mutmaßt die Ratte. „Denkst Du, uns hat jemand gefunden?“, fragt die Gasmaske weiter. „Ich glaube nicht.“, antwortet die Ratte und betrachtet das Graffiti genauer. „Sieh nur, da ist ein Zeichen in einem Auge zu erkennen.“ Die Ratte stellt sich
auf ihre Hinterbeine um besser sehen zu können und beschnuppert das mit grauer Farbe hingepinselte Symbol.
„Du hast recht“, sagt die Gasmaske, „jetzt sehe ich es auch, im linken Augenglas ist es deutlich zu sehen, kannst Du erkennen, was es darstellt?“ Die Ratte legt ihren Kopf etwas schief und überlegt: „Es könnte eine einfache Darstellung eines Vogelschädels sein. Aber ich kenne die Bedeutung nicht. Weißt Du vielleicht mehr darüber?“
Die Gasmaske wird still, versucht sich zu erinnern. Es fällt ihr schwer, denn sie ist alt, porös und an vielen Stellen spröde und so ist es auch um ihre Erinnerungen an das Davor bestellt. Aber nach einer Weile fällt ihr doch etwas dazu ein: „Das ist tatsächlich schon lange her… Aber ich meine mich daran zu erinnern, dass es das Zeichen des Schnittmuskels ist.“
Interessiert und verwundert wendet sich die Ratte von dem Graffiti ab und dreht sich verwundert der Gasmaske zu: „Des Schnittmuskels? Was ist das?“ Die Gasmaske kramt weiter in ihren Erinnerungen und antwortet nachdenklich: „Der Legende nach soll das ein großer schwarzer Vogel gewesen sein. Er wusste über alle Zonen Bescheid, er verband sie, als ihr Bote, diente als Informant und neutraler Beobachter des Geschehens.“ Das Interesse der Ratte ist nun endgültig geweckt und sie will mehr wissen: „Oh bitte, erzähl mir davon, versuch dich zu erinnern, vielleicht ergibt dann alles mehr Sinn!“ fiept sie aufgeregt.
Die Gasmaske lächelt, müde von der Anstrengung der aufblitzenden Erinnerungen, aber strengt sich an, um der Ratte den Gefallen zu tun. „Ich weiß, dass der Schnittmuskel unsere Hauptstadt Antarik Angoon auch nur mit einer wie mir, als Schutz, besuchen konnte. Und in einer anderen Zone war er bereits tot. Es gab Gerüchte, dass er in wieder einer anderen Zone aber lebte.“ „Ein Paradoxon!“, ruft die Ratte aus, „wie kann er in einer Zone tot sein und in der anderen leben?“ Mit ihrem verwirrten Gesichtsausdruck fordert das kleine Tier die Gasmaske auf, weiterzuerzählen.
„Von Manchen wurde der Schnittmuskel angebetet und verehrt und von Anderen gefürchtet“, kann die Ratte der Gasmaske noch entlocken. Und dann: „Das ist alles, was mir noch dazu einfällt. Meine Erinnerungen sind vage, sie liegen in einem Nebel aus Vergessen und ich bin müde.“ Die Gasmaske schließt ihre Augen.
Ein leises Beben streift das Fell der Ratte und sie blickt ehrfürchtig von der Gasmaske zu dem grauen Graffiti. „Was das wohl zu bedeuten hat, dass das Symbol des Schnittmuskels im Auge einer Gasmaske plötzlich an mehreren Stellen hier auftaucht?“ sinniert die Ratte vor sich hin. Da öffnet die Gasmaske ihr Augen wieder und sagt: „Lass es mich noch einmal sehen.“
Die Ratte gibt den Blick auf die Mauer mit dem Symbol frei und wartet ungeduldig, ob der Gasmaske noch etwas einfällt. Und tatsächlich, müde, aber mit klarer Stimme erinnert sie sich: „Es existierten mehrere Symbole für den großen schwarzen Vogel. Jede Zone hatte dem Schnittmuskel ihr eigenes Symbol zugeordnet. Ich kenne nur drei davon. Das hier, in dem Auge der Gasmaske, muss das Symbol der Wüstenzone gewesen sein.“
„Woran erkennst Du das?“, fragt die Ratte.
„Wie du vorhin richtig erkannt hast, ist es ein Vogelschädel, denn in der Wüstenzone galt der Schnittmuskel als tot.“ erklärt die Gasmaske. Auf ihren Hinterbeinen stehend, betrachtet die Ratte nachdenklich das Symbol, sie wittert und ihre Schnurrhaare zittern, als sie entschlossen sagt: „Ich muss herausfinden, wer diese Graffitis malt, was es damit auf sich hat.“
Der Gasmaske sind unterdessen wieder die Augen zugefallen. Die Ratte stupst sie zart mit ihrer feuchten rosa Nase an, worauf die Gasmaske die Augen wieder öffnet und ihre kleine Freundin verwirrt anschaut. Ein Augenblick vergeht, ehe sie sich orientiert hat und wieder weiß, wo sie sich befindet. „Entschuldige“, sagt die Gasmaske zur Ratte, „die Erinnerungen machen mich seltsam müde, aber ich will Dir noch von den anderen beiden Symbolen erzählen, von denen ich weiß. Du wissbegieriges Wesen lässt mich vorher nicht zur Ruhe kommen, soweit kenne ich Dich bereits.“
Etwas schuldbewusst, aber auch dankbar und voller Erwartung auf neues Wissen, drehen sich die Ohren der Ratte der Gasmaske entgegen, die folgendes zu berichten weiß: „In Antarik Angoon, diesem Moloch einer Stadt, hatte der Schnittmuskel das Symbol einer Gasmaske. Die Luft muss für ihn dort so unerträglich gewesen sein, dass er die Stadt nur mit einer Maske betreten konnte. Daraus schlussfolgerten die Menschen, dass er in einer anderen Zone lebte, in einer Zone, in der es noch gute Luft gab. Saubere Luft, mit viel Sauerstoff angereichert. Und es gab diese Zone. Sie lag hinter der Wüste und sechs Grad hinter dem Horizont. Dort wuchsen Pflanzen und es fand Photosynthese statt. Aber die Wüste war so groß, dass noch niemand sie lebend durchquert und die grüne Zone dahinter erreicht hatte. Oder vielleicht doch, aber es kam nie jemand zurück. Warum auch? Denn wenn jemand die grüne Zone tatsächlich erreicht hat, warum sollte er zurück in diese alles verschlingende, graue, triste, brutale, erstickende und harte Stadt wollen?
Trotzdem hatte, der Legende nach, der Schnittmuskel in der grünen Zone, welche immer sechs Grad hinter dem Horizont stand, das Symbol eines lebendigen Vogels. Er war der Einzige, der diese weite Wüste, die auch die Todeszone genannt wurde, überfliegen konnte. Und so war er lebende Legende, stiller Bote, ein Mythos und trotzdem real.“ endete die Gasmaske.
Mit vor Staunen offenem Mund fasziniert und mit großen Augen hat die Ratte dem Bericht der Gasmaske zugehört. Überwältigt von dem Wissen über vergangene Welten, nistet sie sich in die bereits vor Erschöpfung schlafende Gasmaske und denkt über das Gehörte nach. „Ich muss den Maler der Graffitis finden.“, ist der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf geht, bevor auch ihr die Lieder schwer werden und sie einschläft.
Ein dunkler Himmel senkt sich über die beiden, Traumbilder werden ihnen in dieser Nacht den Schlaf lebendig gestalten, während sich, nicht weit entfernt, jemand mit einem Farbeimer und einem Pinsel durch die Dunkelheit bewegt.